Vorhut der US- Molekularbiologie?

In Arbei 

An anderer Stelle ist erwähnt, dass wir nach Abschluss der in der Zeitschrift Wissenschaft und Fortschritt veröffentlichten DNS-Serie ernsthaft überlegt hatten, eine Artikel-Reihe über Proteine folgen zu lassen. Das war seinerzeit – um 1970 – von Professor Jakob Segal, einem einflussreichen Mitglied des Kollegiums von WiFo, verhindert worden. Wie mir ein Mitglied der Parteileitung des Akademie-Verlags damals im Vertrauen mitteilte, sei das erfolgt, weil Segal mich beschuldigt hatte, ich sei „die Vorhut der US-amerikanischen Molekularbiologie in der DDR“.

Das war damals in offiziellen Kreisen ein bedeutungsschwerer Vorwurf. Die Sowjetunion, die Sowjetwissenschaft, sollte das Vorbild sein. Und dort wurde moekularbiologische Forschung und Lehre nach Überwindung der Lyssenko-Ärea gerade wieder mühsam aufgebaut. „Von der Sowjetunion lernen heißt siegen lernen“ hieß es allerorts.

Die Sowjetunion - Urheimat des Elefanten?

Die Vereinigten Nationen hätten einen Preis ausgelobt, erzählten wir uns damals, für eine grundlegende Studie über das Leben des Elefanten. Zahlreiche Staaten beteiligten sich. Frankreich reichte eine Analyse ein über Das Liebesleben des Elefanten. Aus dem Vereinigten Königreich kam eine Dokumentation How to hunt elefants. Die USA untersuchten Die Arbeitsproduktivität der Elefanten. Die Sowjetunion präsentierte drei Bände: Die Klassiker des Marxismus-Leninismus über das Leben der Elefanten, Der Elefant und der erste Grundzug des dialektisch-historischen Materialismus und Die Sowjetunion - Urheimat des Elefanten. Auch die DDR lieferten einen Beitrag, eine umfangreiche Untersuchung über Was sagt die Sowjetwissenschaft über das Leben des Elefanten.

Einen Beleg für Segals Anschuldigung habe ich in den relevanten Archivbeständen nicht gefunden; meinen damaligen Informanten kann ich nicht mehr befragen, wie so viele meiner Zeitgenossen lebt er auch nicht mehr. Aber ich habe im Bundesarchiv ein Schreiben entdeckt, in dem er sich bei höchster Instanz, bei einem Mitglied des Politbüros der SED über mich beschwert hat. Am 25. Juni 1973 beklagte er sich bei Kurt Hager darüber, „daß die ideologische Situation in der Biologie schwierig“ sei. Der Leipziger Zoologie-Professor Günther Sterba und ich stellten die „Spitzenpositionen“.  (Sterba war zu dieser Zeit Präsident der Biologischen Gesellschaft der DDR, ich Vorsitzender der Gesellschaft für physikalische und mathematische Biologie.)  Laut Segal waren wir angeblich verantwortlich für die aktuelle Situation: „Wer die Verherrlichung der amerikanischen Biologie nicht mitmacht, hat es nicht leicht“.

Segal behauptete, Sterba und ich hätten sich seinerzeit „aus der Partei herausschmeißen lassen, als es noch üblich war, sich auf diese Weise den Zugang zur Akademie zu öffnen“. Das war völliger Blödsinn. Über Sterbas politische Vergangenheit weiß ich nichts. Ich hingegen wurde 1957 aus der Mitgliederliste der SED gestrichen, nachdem ich am 6. November 1956 wegen des Einmarsches sowjetischer Truppen in Budapest meinen Parteiaustritt erklärt hatte. Zu dieser Zeit war ich bereits Mitarbeiter des Instituts für Medizin und Biologie und Mitglied der Parteileitung.

Natürlich ging Hager den Segalschen Vorwürfen nach. Er beauftragte Hannes Hörning, den Leiter der Abteilung Wissenschaften des ZK mit entsprechenden Nachforschungen. Zu dem von Segal erbetenen Treffen kam es nach Aktenlage wohl aber nicht.

 Hörnig antwortete vier Wochen später, Sterba sei bereits 1952 als Parteimitglied gestrichen, aber erst 1972 Akademie-Mitglied geworden. Und ich sei 1957 als Assistent eines Bucher Akademie-Instituts 1957 „aus der Partei gestrichen“.

Bezüglich der Rolle der Partei in den biologischen Universitätseinrichtungen informierte Hörning, 41% der Professoren, 50% der Dozenten und 26% der wissenschaftlichen Mitarbeiter seien Mitglieder der Einheitspartei. (In Rostock sah es nach meiner Erinnerung seinerzeit besser aus, und an den naturwissenschaftlichen Akademie-Intituten sowieso. Darüber habe ich in Drosophila oder die Versuchung ausführlich berichtet).

Abgesehen von der Unmöglichkeit, eine größere Publikation über Proteine herauszubringen (ohnehin nicht mein Spezialgebiet), hatten Segals Interventionen für mich keine merklichen Folgen, obwohl – oder weil – Hager an den spektakulären Entwicklungen der Molekularbiologie durchaus interessiert war. Das ging nicht zuletzt aus seinem Referat auf dem 1979er Philosophen-Kongress /Link: Hager-Fehler) hervor.

Nachteile ergaben sich für mich jedenfalls nicht – im Gegenteil: Hager stimmte fünf Jahre später zu, dass ich ehemaliges Parteimitglied gemeinsam mit 32 Genossen Philosophen die DDR auf dem Düsseldorfer Weltkongress für Philosophie vertreten durfte, sogar mit einem Plenarreferat. Und Hager stimmte zu, dass ich 1982 damit beauftragt wurde, das Biologie-Kapitel im neuen Jugendweihe-Buch Vom Sinn unseres Lebens zu verfassen. Ironischerweise wurde damit Jakob Segal ersetzt, der in dem Sammelband Weltall, Erde, Mensch, das in vorangegangenen Jahren den Jugendweihlingen feierlich überreicht worden war, über Was ist das Leben geschrieben und von der Mehrheitsmeinung abweichende Thesen über Vererbung und über Proteinstrukturen verbreitet hatte.  

Aber noch 1986, also 15 Jahre später hieß es in einer Stasi-Einschätzung, ich sei nach meinen Aufenthalten in den USA „wirklich zum Pabst der Genetik geworden. Sei letztes Wort bei jeder Diskussion war: aber in Amerika habe man festgestellt, oder Delbrück und Mitarbeiter sind der Meinung, etc. Wer auch nur wagte, an irgendeiner Maxime, die aus den USA stammte, zu zweifeln, wurde offiziell in Acht und Bann getan.“ Das urteilte nicht irgendein wenig informierter Inoffizieller Mitarbeiter, sondern vom Leiter der für die „Aufklärung Grundlagenforschung“ zuständigen Abteilung XIII des Ministeriums für Staatssicherheit. Unter anderem sei ich in der 1984 in Zeitschrift Sinn und Form ausgelösten kontroversen Debatte über die künstlerische Darstellung wissenschaftlicher, speziell molekulargenetischer Erkenntnisse und Perspektiven „offiziell für die amerikanischen Biologen im Dienste des Imperialismus aufgetreten“.

Tatsächlich war die führende Rolle der USA forschenden und/oder dort ausgebildeten Naturwissenschaftler bei der Entwicklung von Molekularbiologie und -genetik nicht zu bestreiten. Denn die hatte sich ja nach dem Zweiten Weltkrieg fast ausschließlich „im Westen“ geradezu explosionsartig entwickelt, während sich die Sowjetunion (die vor dem Krieg den dritten Platz in der genetischen Weltrangliste eingenommen hatte) durch Mitschurin und Lyssenko selbst ins Abseits geschossen hatte. Und ich war durch meinen Crash-Kurs in Molekulargenetik 1960 in Köln und die daraus resultierenden Kontakte zu Pionieren der Molekularbiologie und ihren Schülern vom molekularbiologischen Sendungs-Virus infiziert worden. Hinzu kamen meine intensiven Interessen an populärwissenschaftlicher Weiterbildungsarbeit.

Natürlich war ich nicht die „Vorhut“ der US-amerikanischen Molekularbiologie in der DDR, wohl aber als Hochschullehrer, URANIA-Referent und Autor einer ihrer aktivsten Propagandisten.  

Fast problemlos konnte ich während meiner Rostocker Zeit Referenten zu Kolloquien einladen, die ständig in den USA forschten oder zumindest dort aus- beziehungsweise weitergebildet worden waren.

Die Vorträge wurden entweder von der „Arbeitsgemeinschaft Genetik“ veranstaltet (mit einem * markiert) oder fanden im Rahmen des Institutskolloquiums statt.

Wichtigster Gast war einer der Pioniere der Molekularbiologie, Max Delbrück.

Anlässlich dessen 60. Geburtstags war damals von seinen Schülern John Cairns, Gunther Stent und James D. Watson unter dem Titel Phages and the Origins of Molecular Biology gerade eine Sammlung von Aufsätzen veröffentlicht worden, in denen die – vorwiegend angloamerikanischen – Schüler Delbrücks meist auf sehr lebendige Weise beschrieben, wie sie zur Entwicklung der neuen Biowissenschaft beigetragen hatten.

Ich bemühte mich 1969 sofort darum, die Festschrift in deutscher Übersetzung herausgeben zu können. Der VEB Bibliographisches Institut Leipzig, bei dem ich gerade ein Taschenlexikon Molekularbiologie herausbrachte, war gern bereit, das zu unter-nehmen. Freunde, Mitarbeiter und andere Kollegen halfen bei der Übersetzung. Und Delbrück schrieb ein ausführliches Geleitwort.

 

Das war tatsächlich – in Segals Sprache – eine bedeu-tende Propagandaaktion für die US-amerikanische Molekularbiologie. Aber die Zensurbehörde, die „Hauptabteilung Verlage und Buchhandel“ des Ministeriums für Kultur, stoppte das Vorhaben. Nicht, weil darin die Erfolge vorwiegend angloamerikanischer Wissenschaftler gewürdigt wurden, sondern weil einer der Autoren der Festschrift seinen Beitrag mit längeren Zitaten des Existenzialisten Søren A. Kierkegaard nicht nur einleitet, sondern auch abschließt. Glückliche Umstände führten dann aber zwei drei Jahre später doch dafür, dass dieses inhaltschwere dann doch im Ostberliner Akademie-Verlag erscheinen durfte. An anderer Stelle ist das ausführlich beschrieben.

 

 

Das Projekt, auf das ich immer noch sehr stolz bin, war nur möglich, weil westdeutsche Verlage damals kein Interesse an einer deutschen Ausgabe der Festschrift hatten. Inzwischen bietet der De Gruyter-Verlag – für gutes Geld – einen Nachdruck dieses, ja zeitlosen und wissenschaftsgeschichtshistorisch immer hoch interessanten – Titels an; leider ohne auf seine komplizierte Entstehungsgeschichte auch nur hinzuweisen.

Und, separat, haben sie auch das speziell für die (ost-)deutsche Version geschriebene Geleitwort Max Delbrücks im Angebot.

Abgesehen davon war ich auch ständig bemüht, die neuesten und wichtigsten Erkenntnisse der Molekularbiologie zu popularisieren. Neben Wissenschaft und Fortschritt, druckten auch beiden wichtigsten Parteizeitungen, Neues Deutschland – als „Zentralorgan“ der SED – und Berliner Zeitung – Organ der SED-Bezirksleitung –nur zu gern meine Texte, auch der Sonntag, die kulturpolitische Wochenzeitung des „Kulturbundes“ und selbst die vom Einheits-Gewerkschaftsbund FDGB herausgegebene Tribüne. Und ich kam in Funkt und Fernsehn zu Wort.