Falsches Zeugnis und Fehlurteil im Nürnberger Prozeß

Auf dem europäischen Kriegsschauplatz hatte – nicht zuletzt wegen Hitlers überraschender Entscheidung LINK – kein Biokrieg stattgefunden. Das Thema wurde auf dem Prozess gegen die Hauptkriegsverbrecher, der vom 14. November 1945 bis zum 1. Oktober 1946 in Nürnberg stattfand, nicht angesprochen, zumindest neun Monate lang nicht.

Aber plötzlich brachten die sowjetischen Prozessvertreter das Thema doch zur Sprache.  Am 12. August wurde der als Zeuge geladene Generalfeldmarschall Erich von Manstein von Generalmajor Alexandrow, dem sowjetische Hilfsankläger, überraschend gefragt: „Wußten Sie, welche Maßnahmen vom Oberkommando der Wehrmacht zur Führung eines biologischen Krieges getroffen worden sind?“ Von Manstein hatte keine Ahnung (vielleicht nicht nur vorgeblich).

Alexandrow legte daraufhin dem Gerichtshof ein „Dokument USSR-510“ vor. Das war ein Brief, den Generalarzt Walter Schreiber zwei Tage zuvor [!!!] „An die Regierung der Sowjet-union“ geschrieben hatte. Schreiber war Chef der Abteilung Wissenschaft und Gesundheits-führung der Heeres-Sanitätsinspektion. In dieser Position dürfte Schreiber von Anfang an über Hitlers diesbezügliche Entscheidungen informiert gewesen sein. Spätestens erfuhr am 21. Juli 1943 auf einer Konferenz davon, auf der explizit festgestellt worden war, „dass der Führer alle Arbeiten, die sich mit dem aktiven Einsatz von B.-Mitteln befassen, verboten habe“.

Schreiber war bei Kriegsende von Rotarmisten gefangen genommen worden. Sicher hat er im Verhör auch über Hitlers Entscheidungen infor-miert. Jedenfalls wurde er in der Gefangen-schaft – nach Aussagen eines Mitgefangenen  – selbst der Vorbereitung des Bakterienkrieges beschuldigt und sogar mit dem Tode bedroht. Das war völlig unbegründet – aber ein wirksamer Erpressungsversuch: Schreiber schrieb seinen, mit dem 10. April 1946, datierten Brief mit der wahrheitswidrigen Behauptung, Hitler habe im Juli 1943 angewiesen, den Biokrieg vorzubereiten.

Schon zwei Tage später begann Alexandrow in Nürnberg den Brief vorzulesen, wurde aber schnell vom Vorsitzenden Richter Lord Justice Sir Geoffrey Lawrence gebremst: Dr. Hans Laternser, der Verteidiger des Oberkommandos der Wehrmacht hatte wegen der Schwergewichtigkeit der Beschuldigungen beantragt, dass Schreiber persönlich nach Nürnberg geladen werde, um einem Kreuzverhör unterzogen werden zu können. Das Gericht folgte dem Antrag, Alexandrow stimmte zu.

Am 26. August 1946 wurde Schreiber in Nürnberg vorgeführt und vereidigt. Alexandrow forderte ihn auf, mitzuteilen, „was ihnen über die Vorbereitung eines bakteriologischen Krieges durch das deutsche Oberkommando bekannt ist“. Schreiber sagte aus, er habe im Juli 1943 an einer vom Oberkommando anberaumten geheimen Besprechung teilgenommen. Dort sei mitgeteilt worden, dass Hitler „den Reichsmarschall Hermann Göring mit der Leitung der Durchführung aller Vorbereitungen des bakteriologischen Krieges beauftragt und ihm die dazu notwendigen Vollmachten erteilt habe“.

Das war mehr Dichtung als Wahrheit. Tatsächlich hatte Schreiber, wie schon oben angedeutet, am 21. Juli 1943 als Gast an einer Konferenz teilgenommen, und zwar als Vertreter der Heeres-Sanitätsinspektion. Es war eine Sitzung des deutschen B-Schutz-Komitees, des sogenannten  „Blitzableiter-Komitees“ teilgenom-men. Das war vier Monate zuvor auf Hitlers Forderung nach Verstärkung von Schutzmaßnahmen hin gebildet worden war.  Die meisten seiner Mitglieder waren von Anfang an überzeugt davon, dass wirksamer B-Schutz betrieben werden könne, wenn man über die offensiven Möglichkeiten des Gegners informiert wäre. Und in diesem Zusammenhang erwähnte der Sitzungsleiter bei dieser Gelegenheit explizit den an Göring erteilten Auftrag zur „Bearbeitung von B.-Mitteln“, fügte aber sofort hinzu: dem stehe entgegen, daß der Führer alle Arbeiten, die sich mit dem aktiven Einsatz von B.-Mitteln befassen, verboten habe“. Das unterschlug Schreiber in Brief und Aussage, ebenso wie die vom Vorsitzenden gemachte Bemerkung, es müsse vom Wehrmachtführungsstab „geklärt, ob der Führer seine bisher ablehnende Haltung geändert habe“. Tatsächlich war Hitler bis Kriegsende nicht umzustimmen.

Die Anglo-Amerikaner wussten, dass Hitler offensive Biokriegsvorbereitungen verboten und dass Schreiber gelogen hatte. In Nürnberg lagen die Unterlagen vor, die gleich nach Kriegsende von der Alsos-Mission erbeutet worden waren.

 Diese Expertengruppe hatte fast alle deutschen Akten zur biologischen Kriegsführung in ihren Besitz bringen können, einschließlich mehrerer Dokumente, in denen explizit  Hitlers Verbot entsprechender Vorbereitungen erwähnt worden war. Und Experten der Mission hatten den besten deutschen Biowaffenexperten Oberstabsarzt Professor Heinrich Kliewe bereits im Juni 1945 verhört.

Außerdem stand dem Gerichtshof ein Teil des von der Kriegsgeschichtlichen Abteilung des Oberkommandos der Wehrmacht geführten Kriegstagebuches zur Verfügung gestellt worden. Er betraf das zweite Quartal 1942. Darin war am 23. Mai 1942 notiert worden: "Vorbereitungen für die Abwehr eines B.-Krieges, hingegen Verbot der Vorbereitungen für den Angriff auf Befehl des Führers (GenStdH/Gen.d.NB.Tr. (Ib) Nr. 297/42 g.Kdos. v. 23. 5. 42).

 

Trotzdem wurden Schreibers Behauptungen von den angloamerikanischen Prozessvertretern nicht widerlegt oder wenigstens in Zweifel gezogen. Dies versuchte lediglich der Verteidiger des OKW. Als er am Tag nach Schreibers Aussage beantragte, eine Gegenüberstellung Schreibers mit einem Entlastungszeugen vorzunehmen, wurde das sowjetischen Anklagevertreter mit der abenteuerlichen Begründung abgelehnt, Schreiber sei bereits wieder ins Kriegsgefangenenlager zurückgebracht worden. Auch das wurde vom Gericht widerspruchslos zur Kenntnis genommen.

Immerhin wurde am 28. August gestattet, dass ein Brief von Oberst Bürker verlesen wurde. Bürker hatte damals die Organisationsabteilung des Wehrmachtführungsstabs geleitet und nun im Generallager Dachau von Schreibers Falschaussage erfahren. Im Herbst 1943 sei er von drei ihm unbekannten Personen aufgesucht worden.

Auch das wurde im Gerichtssaal kommentarlos zur Kenntnis genommen – aber drei Tage später von Keitel bestätigt, als alle Angeklagten noch einmal persönliche Erklärungen abgeben konnten.

Soweit Keitels Schlussbemerkungen.

Nach meinem Kenntnisstand war dies das erste und einzige Mal während des gesamten Prozesses, dass Hitlers Verbot explizit erwähnt wurde.

Anschließend vertagte sich das Gericht, um über das Urteil zu beraten. Noch war ausreichend Zeit, um auch Bürgers Brief und  Keitels Einlassungen zu berücksichtigen – sofern im Urteil überhaupt auf Schreibers Falschaussage Bezug genommen werden sollte.

Am 30. September 1946 wurde mit der Verlesung des Urteils begonnen. Trotz bessres Wissen der Richter ging der Kernpunkt von Schreibers Falschaussage im Abschnitt  „Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit“ unrelativiert in das Urteil ein:

Außerdem wurden 1943 Versuche zur Vorbereitung eines bakteriologischen Feldzugs begonnen.; Sowjetgefangene wurden zu diesen medizinischen Versuchen verwendet; in der Mehrzahl der Fälle hatten diese den Tod zur Folge. Im Zusammenhang mit diesem bakteriologischen Feldzuge wurden auch Vorbe-reitungen für das Ausstreuen einer Bakterienemulsion von Flugzeugen getroffen…

Das war ein Fehlurteil par excellence Die Richter hatten Schreibers Falschaussagen für bare Münze genommen.

[In unserem Zusammenhang ist die Passage „Sowjetgefangene wurden zu diesen medizinischen Versuchen verwendet“, eine zusätzliche Lüge. Schreiber war zwar vom sowjetischen Ankläger auch befragt worden, was er über Versuche wisse, die mit Menschen durchgeführt worden seien. Daraufhin erwähnte er im KZ Buchenwald vorgenommene, oft tödlich ausgegangene Experimente zur Prüfung von Fleckfieberimpfstoffen, stellte dabei aber – diesmal wahrheitsgemäß – keinerlei Bezug zu angeblichen Biokriegsvorbereitungen her.]

Aber bis zur Freigabe der ersten Alsos-Dokumente bestimmte das Nürnberger Fehlurteil die internationale Einschätzung der Haltung Hitler-Deutschlands zum Biokrieg. Noch im Frühjahr 1986, als ich die Einleitung zu meinem SIPRI-Buch Biological and Toxin Weapons Today schrieb, wiederholte ich Schreibers Lügen: 

Dabei bezog ich mich auf die damals sehr verbreitete populäre Darstellung chemischer und biologischer Kriegsführung durch die beiden britischen Journalisten Robert Harris und Jeremy Paxman (von denen einer, Harris, sehr erfolgreicher Roman- und Sachbuchautor wurde). Und die hatten sich auf die Aussage Schreibers im Nürnberger Haupt-Prozesses bezogen, allerdings ohne seinen Namen oder den von Hitler direkt zu erwähnen.

Erst ein, zwei Jahre später wurde allmählich der Geheimhaltungsstatus der von der Alsos-Mission entdeckten Akten freigegeben und die beiden deutschen Militärhistoriker Rutibert Kunz und Rolf-Dieter Müller konnten der erstaunten Öffentlichkeit den Beleg für das Hitler-Verbot vorlegen.

Aber warum hatten die Westmächte zugelassen, dass die Weltöffentlichkeit derart belogen wurde? Die schon zu diesem Zeitpunkt bekannt gewordenen Verbrechen Hitlerdeutschlands waren so exorbitant und schockierend, dass man dem Diktator nicht auch noch ohne Not anlasten musste, biologische Kriegsführung vorbereitet zu haben.

Das Motiv, speziell das der US-Administration war, so wenig Informationen über Möglichkeiten der biologischen Kriegsführung an die Öffentlichkeit dringen zu lassen. Ich stieß bei meinen Recherchen zur Geschichte der Biowaffen darauf.