PATOOMB

Phages and the Origins of Molecular Biology

Anlässlich Delbrücks 60. Geburtstags hatten seine Schüler John Cairns, Gunther Stent und James D. Watson unter dem Titel Phages and the Origins of Molekularbiology eine Sammlung von Aufsätzen veröffentlicht. Darin beschrieben die – vorwiegend angloamerikanischen – Schüler Delbrücks auf meist sehr anschauliche und lebendige Weise, wie sie unter Delbrücks Einfluß zur Entwicklung der Molekularbiologie beigetragen hatten.

Der Jubilar fand die Festschrift – für die er sofort das Akronym PATOOMB einführte - „sehr lustig und in manchen Partien eine ernsthafte historische Studie“. Einer der drei Herausgeber, mein Freund Günther Stent – den ich 1962 in Brno kennengelernt hatte, wo wir Genetiker den hundertsten Geburtstag von Gregor Mendel feieretn – schrieb mir am 8. März 1967, es sei doch eigentlich schade, dass Devisenschwierigkeiten eine weitere Verbreitung der Festschrift verhindern werden. Ob vielleicht Verlage in der DDR daran interessiert sein könnten, einen Nachdruck  von PATOOMB für die sozialistischen Länder herzustellen.

Ich hielt das natürlich für eine sehr gute Idee, dachte aber, wenn schon, dann kein Nachdruck sondern eine Übersetzung ins Deutsche.  Delbrück selbst stimmte begeistert zu, auch weil kein westdeutscher Verlag an einer Lizenzausgabe interessiert war, und fragte den zu dieser Zeit noch amtierenden Direktor des Cold Spring Harbor Laboratory of Quantitative Biology, John Cairns, nach der Druckgenehmigung. Das Cold Spring Harbor Laboratory fungierte ja als Verlag von PATOOMB. Der schrieb an Delbrück: „Jim [der gerade zum neuen CSH-Direktor ernannte James D. Watson] and I have agreed that East Germany should be allowed to translate the Festschrift.“ Und da Delbrück ihn über unsere Devisenknappheit informiert hatte, fügte Cairns hinzu: „If it turns out that West Germany is going to pay East Germany something for their part of the Pan-German sales, I would have thought that poor old Cold Spring Harbor might get a bit from West Germany”.

Aber die dafür in Frage kommenden Verlage zeigten kein Interesse daran: Ich schrieb Stent: „Sowohl der VEB Gustav Fischer Verlag Jena als auch der Akademie-Verlag wollen das Buch nicht nachdrucken, weil sie annehmen, es nicht ins westliche Ausland exportieren zu können und weil es sich deshalb nicht rentiert. Der Verlag, der die Verhandlungen der Leopoldina – Deutsche Akademie der Naturforscher – druckt, kann nach Auskunft von Prof. Mothes die Aufgabe nicht übernehmen, weil sie große Kapazitätsschwierigkeiten haben. … Ich bedaure das alles sehr, denn hier hätte sich doch die Möglichkeit geboten, unsere Studenten und jungen Wissenschaftler einmal mit der Originalliteratur und gleich mit entsprechenden schönen Übersichten vertraut zu machen.“

Genau ein Jahr später gelang es mir aber schließlich, den VEB Bibliographisches Institut in Leipzig, für den ich gerade dabei war, ein Taschenlexikon der Moleku­lar­biologie herauszugeben, für das Vorhaben zu gewinnen. Unverzüglich informierte ich Delbrück „Der Verlag will die Rechte an der Publikation der Festschrift in deutscher Sprache und zum Vertrieb im deutschen Sprachraum ganz ordnungsgemäß erwerben und an ‚old poor Cold Spring Harbor’ (wie  Cairns seinerzeit in seinem entspr. Schreiben an Sie meinte) sogar international übliche Lizenzgebühren zahlen“.  Wenige Tage später baten Verlagsleiter Köhler und ich Watson offiziell um die Rechte zur Veröffentlichung einer deutschen Übersetzung und für das „ausschließ­liche Recht zum Vertrieb im gesamten deutschsprachigen Gebiet“.

Inzwischen hatten wir – vorwiegend Mitarbeiter unseres Rostocker Instituts sowie Kollegen aus einigen Akademie-Instituten – die Übersetzung von PATOOMB abgeschlossen. Ein Übersetzerkollektiv konnte nicht nur wesentlich schneller arbeiten, sondern auch die unterschiedlichen Formen und Gestaltungen der Originalbeiträge besser widerspiegeln. Darüber hinaus fragte ich bei Delbrück an, ob er vielleicht ein Vorwort schreiben könnte: „Ein Vorwort aus Ihrer Feder würde die Attraktivität der deutschen Ausgabe außerordentlich erhöhen; andererseits wäre es eine sehr schöne sachliche Bereicherung, wenn so ein Erinnerungsbeitrag von Ihnen dabei wäre mit einigen Informationen darüber, wie sich die ganze Entwicklung Ihnen dargestellt hat“. Delbrück reagierte wieder prompt: „Regarding a preface by me, I am willing to do a short one“.

Gegen die Verbreitung existenzialistischen Gedankenguts

 

Aber dann, noch im Jahre 1969, hörte ich inoffiziell aus dem Verlag, dass die Veröffentlichung  von PATOOMB auf Schwierigkeiten stoße. Seitens der – zu dieser Zeit von Bruno Haid geleiteten – Zensurbehörde, der „Hauptabteilung Verlage und Buchhandel“, sei die Publikation unter anderem deshalb abgelehnt worden, weil einer der Autoren der Festschrift seinen Beitrag mit längeren Zitaten des Existenzialisten Søren A. Kierkegaard nicht nur einleitet, sondern auch abschließt. Haid hatte bei der Strafverfolgung von Wolfgang Harich und Walter Janka „den notwendigen Kampf gegen Feinde der DDR vernachlässigt“ und war deshalb 1958 von seiner Funktion als stellvertretender Generalstaatsanwalt abgelöst worden. Nach einer solchen Disziplinierung verhält man sich natürlich besonders linientreu und prinzipienfest...

Von den mutmaßlichen Gründen für die Ablehnung der Druckerlaubnis erfuhr ich allerdings nur unter der Hand. In einem mir zur Verfügung gestellten Gutachten des Chefredakteurs der Biologischen Rundschau Friedrich Stöcker– der sich selbst „als alter Gutachter der HV Verlage und Buchhandel“ bezeichnete - werden zwar „einige Formulierungen“ moniert, „die wir auf der Basis des dialektischen Materia­lis­mus anders fassen würden, [...] die jedoch in keinem Fall Anlaß zu einer negativen Einschätzung geben können“. Vielmehr könne er „die Publikation dieses Standard­werkes zur Geschichte der Molekular­bio­logie nur mit Nachdruck befürworten“.

Jedenfalls versuchte ich, etwas öffentlichen Druck zu machen. Mit der Wissenschafts­redaktion des Zentralorgans des SED „Neues Deutschland“ – die auch die Herausgabe einer deutschen Auflage für erstrebenswert hielt – verabredete ich, in einer Antwort auf einen „getürkten“ Leserbrief unter dem verlockenden Titel „Sind Physiker bessere Biologen?“ die bevorstehende deutsche Ausgabe von PATOOMB anzukündigen. Er habe sich schon immer gewundert, ließ ich den von mir erfundenen Martin Krüger aus Magdeburg am 8. November 1969 im „ND“ fragen, „warum so viele Physiker erwähnt werden, wenn über moderne Biologie gesprochen wird“, beispielsweise im Zusam­menhang mit der Verleihung des Nobelpreises an Max Delbrück. Das begründete ich anschließend in einer zusammen mit dem „Leserbrief“ veröffent-lichten, relativ ausführlichen Antwort. Und dabei erwähnte ich unter anderem, die Ursache für den herausragenden Beitrag von Physikern an der Entwicklung der Molekularbiologie werde „übrigens im Vorwort einer Sammlung von Aufsätzen prominenter Molekularbiologen ausführlich untersucht. Das Vorwort für die deutsche Ausgabe schrieb einer der diesjährigen Nobelpreisträger, nämlich Max Delbrück. Die Aufsatzsammlung „Bakteriophagen und die Quellen der Molekularbiologie“ wird gerade vom Leipziger VEB Bibliographisches Institut vorbereitet“.

Von den mutmaßlichen Gründen für die Ablehnung der Druckerlaubnis erfuhr ich allerdings nur unter der Hand. In einem mir zur Verfügung gestellten Gutachten des Chefredakteurs der Biologischen Rundschau Friedrich Stöcker– der sich selbst „als alter Gutachter der HV Verlage und Buchhandel“ bezeichnete - werden zwar „einige Formulierungen“ moniert, „die wir auf der Basis des dialektischen Materia­lis­mus anders fassen würden, [...] die jedoch in keinem Fall Anlaß zu einer negativen Einschätzung geben können“. Vielmehr könne er „die Publikation dieses Standard­werkes zur Geschichte der Molekular­bio­logie nur mit Nachdruck befürworten“.

Deshalb ging ich zu Robert Rompe, dem Chef meines Kollegen Wolfgang Eckart. Der Physiker Rompe kannte Delbrück noch aus dem Vorkriegs-Berlin. Darüber hinaus war er an molekular- und vor allem an strahlenbiologischen Problemen und deshalb auch an unseren Forschungsarbeit sehr interes­siert – und er war Mitglied des Zentralkomitees der SED. Ob er aus marxistischer Sicht ein Nach­wort zum deutschen PATOOMB schreiben und dadurch die Er­wäh­nung Kiergegaards linientreu neutralisieren könne? Rompe war sofort bereit. Nicht einmal das half. (Damals, lange vor dem Zusammenbruch der DDR und der Öffnung des Stasi-Archivs, hatte ich natürlich noch die mindeste Ahnung davon, dass neben mir auch Rompe auf der Abschussliste Jakob Segals stand, buchstäblich auf der Abschussliste: Segal hatte dem Ministerium für Staatssicherheit in den 1950ern detaillierte Vorschläge unterbreitet, wie man Rompe unauffällig beim Radfahren auf Hiddensee umbringen könne.)

Aber eines Tages ergab es sich im Herbst 1970, dass ich Hubert Pöche, einem jungen Mit­arbeiter des Akademie-Verlages, der an der Herstellung des Schlüssel des Lebens  beteiligt war, von den PATOOMB-Problemen erzählte. Auch Pöche verstand – vor allem angesichts des großen Mangels an einschlägiger Fachliteratur –  nicht, warum dieses inhaltschwere Buch bei uns nicht erscheinen durfte. Schon ein paar Tage später suchte er mich wieder auf und fragte mich, ob ich denn bereit und interessiert sei, das Buch im Akademie-Verlag herauszubrin­gen. Er habe mit dem Parteisekretär des Verlags gesprochen. Der hatte über philosophische Probleme der Naturwissenschaften promoviert und nicht zuletzt deshalb großes Interesse an PATOOMB gezeigt. Zudem sei dessen Frau Hauptabteilungsleiterin in Bruno Haids Zensurbehörde, und könne eine entsprechende Druckgenehmigung erwirken. Natürlich stimmte ich zu.

Nun ging alles ganz schnell, für DDR-Verhältnisse. Der Akademie-Verlag übernahm im Dezember 1970 vom Bibliographischen Institut das komplette, satzfertige Manuskript, und Anfang Oktober 1972 erschien „Phagen und die Entwicklung der Molekular­biologie“ in Ostberlin. Max Delbrück fand die deutsche Ausgabe „sehr gelungen“. Allerdings habe er sein Vorwort mit „anfänglicher Bängniss“ gelesen, denn inzwischen habe er „total vergessen“, dass er es geschrieben hatte. Er wusste nicht einmal mehr, ob er es auf Englisch oder Deutsch verfasst hatte (er hatte es in Deutsch verfasst). „Es liest sich jedenfalls gut, das muss ich zugeben, selbst auf die Gefahr hin, dass ich mich (oder mich von 1970) selbst lobe“.

Ja, das Vorwort war gelungen und höchst interessant, zumal Delbrück darin nicht nur den Inhalt einzelner Beiträge der Festschrift selbst kommentierte, sondern die Gelegenheit auch dazu nutzte, auf einige herausragende Rezensionen der englischen Ausgabe einzugehen. Deshalb beschrieb er unter anderem die Situation, in der er und einige andere Phy­siker in den 1930er Jahren damit begonnen hatten, sich mit Grundfragen der Biologie zu beschäftigen.

Insofern ist also unsere deutsche Ausgabe noch inhaltsschwerer als das Ori­ginal. Trotzdem wird dieses Buch heute, nach der Wende, von den Autoren, die sich mit Delbrücks Leben und Werk beschäf­tigen – mit Ausnahme marginaler Hinweise von Peter Fischer –, fast ausnahms­los ignoriert.  Auch Delbrück selbst bemängelte schon seinerzeit, „Im Westen ist das Buch anscheinend nicht zu haben, trotz der Beteuerungen des Verlagsleiters. Das liegt offenbar an der künstlichen Valutarate“.

Inzwischen gibt’s das Werk doch noch auch „im Westen“, im neuen Deutschland: Der Verlag De Gruyter Brill bietet seit 2024 einen Nachdruck an.