Die Kühlungsborner Kolloquien

 

Begonnen hatte es mit einer Fachveranstaltung: Biologen, Mediziner und Physiker, die sich für die Wirkung ultravioletter Strahlen interessierten, trafen sich in der DDR im Zweijahres-rhythmus, jeweils von einem anderen organisiert.

Im Jahre 1969 war ich dran. Damals arbeiteten wir im Rostocker Institut für Mikrobengenetik über die Wirkungen von UV-Strahlen auf Bakterien und Phagen. Außerdem war ich zu dieser Zeit Vorsitzender der Gesellschaft für reine und angewandte Biophysik, unter deren Ägide die Kolloquien stattfanden.Für uns Rostocker war es naheliegend,  das Ostseebad Kühlungsborn als Tagungsort auszuwählen.

Dieses UV-Kolloquium, an dem Kollegen aus Ost und West teil-nahmen, galt für uns als I. Küh-lungsborner Kolloquium – nicht zu verwechseln mit anderen Kon-ferenzen, wie beispielsweise Arbeitstagungen, die das „Ley-Haus“, der Berliner Lehrstuhl des Philosophen Hermann Ley, dort regelmäßig veranstalteten. Der von mir herausgegebene Protokollband erschien als Sonderheft der Zeitschrift studia biophysica im Akademie-Verlag.

Ein Jahr später fand dann ein zweites interdisziplinäres  Kühlungsborner Kolloquium statt, wieder mit internationaler Beteiligung. Diesmal ging es um Philosophische und ethische Probleme der modernen Genetik. Wie ich ausführlich in meiner Autobiographie berichte, hatte ich damals noch keine große Rosinen im Kopf. Erstens wollte ich, der Forderung das Ministeriums für das Hoch- und Fachschulkommen folgend, mit meiner „Forschungsgruppe Mikrobengenetik der Sektion Biologie der Universität Rostock“ – zu der im Verlauf der III. Hochschulreform mein Institut inzwischen degradiert worden war – etwas vernünftiges zur Feier des hundertsten Geburtstages von Lenin unternehmen.

 Zweitens wollte ich die Manuskripte meiner Mitarbeiter Siegfried Scherneck, Horst Schlechte und Michael Theile zur Diskussion stellen, die sie als angeforderte „ML-Arbeiten“ im Rahmen ihres Promotionsverfahrens verfasst hatten. Und schließlich wollten wir die Diskussionen über Chancen und Risiken der modernen Genetik in einem breiten interdisziplinären Forum weiterführen, die vornehmlich 1962 auf dem berühmt-berüchtigten CIBA-Symposium  über Man and his Future ausgelöst und in der DDR von uns in Rostock-Warnemünde auf einer Konferenz über Humangenetik und die Zukunft des Menschen weitergeführt worden war.

Wie vor allem an anderer Stelle beschrieben verlief diese Tagung so erfolgreich und warf so viele Fragen auf, deren intensivere Erörterung notwendig war, dass die erstens die Eröffnung einer ganzen Reihe von interdisziplinären Kolloquien über ethische und gesellschaftliche Probleme der Biowissenschaften auslöste, die etwa alle zwei Jahre stattfanden, sowie eine Reihe von „Freitagsgesprächen“, die wir in Berlin im Künstlerclub „Möwe“ veranstalteten.

Die Veranstaltungsreihe konnte erfreulicherweise sogar nach dem Zusammenbruch der DDR veranstaltet werden. Das XII. Kolloquium fand noch in der – zwischen tatsächlich „Demokratischen“ – DDR statt, zwei Wochen zu deren Beitritt zur Bundesrepublik. Die folgenden vier Veranstaltungen wurden in kleiner Runde als Expertenkonferenzen andern Orts, in Biesenthal bei Berlin sowie auf der kleinen Ostseeinsel Vilm durchgeführt.

Die auf den im Ostseebad Kühlungsborn veranstalteten Kolloquien gehaltenen Vorträge und Diskussionsbemerkungen wurden im Akademie-Verlag veröffentlicht   – bis auf die des IX. Kolloquiums, das unter dem Arbeitstitel „Leben und Sterben“ stand. Über diese Veranstaltung gibt es aber wenigstens eine ausführliche Besprechung von Uwe Körner.

Die Kühlungsborner Kolloquien stießen von Anfang an auf großes Interesse, nicht zuletzt, weil dort auch ausgesprochene „Tabu-Themen“ behandelt wurden: Eugenik, Eingriffe ins genetische Material des Menschen, Humanethologie, Umgang mit dem Sterben und mit Sterbenden, uns so weiter.

Selbst der Allmächtigkeitsanspruch des Marxismus-Leninismus konnte – in Maßen – in Frage gestellt werden, schon auf dem ersten Kolloquium:

Aus: Erhard Geissler, "Einführung". In: E. Geissler und H. Ley (Hrsg.) Philosophische und ethische Probleme der modernen Genetik, Berlin 1972, S. 12.

Vom Gesamtdeutschen Ministerium mitfinanziert

Für die Wissenschaftler unterschiedlichster Disziplinen, Künstler und Journalisten aus der DDR waren die Kühlungsborner Kolloquien nicht nur wegen der behandelten Themen und der Möglichkeit zum Tabu-armen Meinungsaustausch (für die Diskussionsrunden waren jeweils 50 Prozent der Zeit eingeplant) attraktiv, sondern auch wegen der Beteiligung prominenter ausländischer Gäste. Und die kamen gern, nicht zuletzt wegen der Möglichkeit zu unbelauschten Strandspaziergängen mit ostdeutschen Kollegen sondern auch wegen der sonst nicht so zugänglichen schönen Küstenlandschaft.

Unter den „Westgästen“  der "normalen" Kühlungsborner Kolloquien waren B.A. Bridges (Harwell, Berkshire)), E. Fahr (Würzburg),  Bernhard Hassenstein (Freiburg/Br.), K. Haefner (Freiburg/Br) Jürgen Horst (Ulm), Hans Kuhn (Göttingen), Benno Müller-Hill (Köln), M. Ruse (Guelph, Ontario), Heinz Schuster (Westberlin), Peter Schuster (Wien), Manfred Spreng Erlangen-Nürnberg), Gunther S. Stent (Berkeley, CA), Friedrich Vogel (Heidelberg), Ole Wasz-Höckert (Helsinki) und Ernst-Ulrich von Weizsäcker (Heidelberg).

Wesentlich mehr Teilnehmer aus dem "KA", dem "kapitalistischen Ausland" kamen zu den beiden, mit großem Aufwand vorbereiteten und betriebenen und in englischer Sprache durchgeführten internationalen Kolloquien, dem 1981er Kolloquium über Darwin today  und der 1990er Konferenz über Biological and Toxin Weapons and the Responsibility of Scientists.

Zumindest die mehreren Besuche von Friedrich Vogel wurden vom Ministerium für Gesamtdeutsche Fragen der Bundesrepublik Deutschland mitfinanziert. Außer mir wusste das damals wohl keiner in der DDR.