Benno Müller-Hill doppelt zensiert

Bei der Vorbereitung des VII. Kühlungsborner Kolloquiums, auf dem es 1979 um „genetic engineering und der Menschen“ gesehen sollte, hatte ich einen guten Bekannten, den führenden westdeutschen Molekulargenetiker und Wissen­schaftshistoriker Benno Müller-Hill vom Kölner Institut für Genetik gebeten, über ethische Probleme des genetic engineering zu sprechen.

Benno Müller-Hill @ Laborchemie

Er zog es vor, wie er einleitend hervorhob, statt dessen „einiges Unkonventionelles, wenn nicht Unhöfliches, zu sagen“, und zwar über „ethische Probleme der Genmanipulierer“. Darüber sei bisher höflich geschwiegen worden. Dass er darüber in Kühlungsborn „freizügig“ reden könne erfülle ihn mit Dankbarkeit. „Solche Freizügigkeit ist rar.“ Aber unsere – von ihn offenbar unterstellte – Freizügigkeit erfülle ihn „auch mit einer gewissen Furcht, denn ich weiß, dass jedes Wort, das einen falschen Klang hat – und wie verhindert man das? – sich gegen mich und vielleicht sogar gegen den mich Einladenden wenden wird“, in diesem Falle also gegen mich, Erhard Geißler.

Wie wahr.

Müller-Hill sprach dann nämlich nicht nur über die ethischen Probleme der Geningenieure sondern auch und sehr konkret über „die Schwierigkeiten des genetic engineering in der DDR“. Diese lägen seiner Meinung nach „nicht am Mangel von Ideen, Labors oder Devisen sondern an einer unzureichenden Organisation der Forschung“. Mit dieser Diagnose legte er den Finger in eine offene Wunde, die von den meisten von uns durchaus wahrgenommen wurde, aber nicht angesprochen werden durfte. Und dann machte er detaillierte Vorschläge, wie wir DDR-„Forscher (nicht die Forschungsadministratoren) ihre volle Produktivität entfalten können“.

In diesem Zusammenhang sagte er Folgendes:

Benno Müller-Hills Manuskript, S. 10-12

 

Das löste einen Skandal aus. Müller-Hill erinnerte sich drei Jahrzehnte später: 

 

Der Programmplanung folgend ist Müller-Hills Vortrag anschließend nicht explizit diskutiert worden. Wohl aber wurden verschiedene Aspekte seiner Ausführungen in einem später am gleichen Tag stundenlang geführten „Rundtischgespräch Genetik und Ethik“ angesprochen und von ihm dann wieder vertieft. Stellungnahmen zu seiner Fundamentalkritik gab es in dem Gespräch, das im Tagungsband auf 26 Seiten wiedergegeben wird, nicht.

 

Müller-Hills kritische und völlig korrekte Analyse hatte für mich als Veranstalter kaum nachteilige Konsequenzen. Allerdings durfte ich in den folgenden fünf Jahren keinen Einladungen ans Kölner Institut für Genetik mehr folgen, weil – wie mir der offizielle Repräsentant der Staatssicherheit im Forschungszentrum für Molekularbiologie und Medizin unverhohlen erklärte – „da doch dieser Müller-Hill sitzt“…

Für mich hatte das auch deshalb keine weiteren merklichen Nachteile, weil ich einen kaum angreifbaren Mitveranstalter hatte, meinen obersten Chef, den Direktor des Forschungszentrums für Molekularbiologie und Medizin Werner Scheler. 

Werner Scheler  @ BB Akademie der Wissenschaften

 

Ich kannte ihn seit meinem Einzug ins Bucher Institut. Er arbeitete damals in der Pharmakologieabteilung. Beide waren wir Mitglieder der Institutsparteileitung der SED und waren verantwortlich für die Gestaltung der Wandzeitung.) Inzwischen war Werner nicht nur Mitglied des Zentral-komitees des SED, sondern gerade eben von der Partei- und Staatsführung als Präsident der Akademie der Wissen-schaften der DDR berufen worden.

(Wenn ich mich recht erinnere nahm Scheler an diesem Kolloquium gar nicht persönlich teil. Zum Glück. Müller-Hills Auftritt wäre vermutlich noch weitaus dramatischer verlaufen und ausgegangen, wenn er in Gegenwart eines ZK-Mitglieds stattgefunden hätte.)

Natürlich sollten auch die Materialien dieses Kolloquiums wieder beim Akademie-Verlag veröffentlicht werden, Vorträge und Diskussionsbemerkungen. Scheler war aber zunächst dagegen, dass Müller-Hills Ausführungen auch in den Tagungsband aufgenommen werden. Zu sehr war er verärgert, dass auf einer von ihm mitverantworteten Konferenz solche Kritik überhaupt öffentlich angesprochen werden konnte (die er wohl im tiefsten Inneren selbst teilte, was noch schlimmer war). Nach langem Zögern (vermutlich auch nach Beratung mit einschlägig Vertrauten) stimmte er meinem Vorschlag zu, Müller-Hills Manuskript unter Weglassung der schonungslosen Analyse zu veröffentlichen. Der Autor stimmte zähneknirschend zu, unter der – von uns dann erfüllten – Bedingung, dass in einer Fußnote zur Überschrift erwähnt wird „Von der Redaktion gekürzt“, und dass der weggelassene Teil seines Textes durch eine Zeile von Punkten markiert wird.

Drei Jahrzehnte später hat Müller-Hill in einem Privat-Druck „Genetik in Deutschland – Unveräffentlichte Manuskripte 1978 – 2002“ veröffentlicht, darunter auch sein Kühlungsborner Referat in voller Länge, die von uns zensierten Abschnitte dabei kursiv markiert.

Allerdings hat er dabei selbsr noch einmal als Zensor gewirkt: Den die DDR-Forschungspolitik kritisierenden Teil seiner Kühlungsborner Vortrages hatte er mit der Bemerkung eingeleitet: „Erlauben Sie hier einem Nichtbürger aber Freund Ihres Landes ein offenes Wort“.

Dieser Satz fehlt leider im Kölner 2007er Reprint.